Neue Rechtsprechung zur Massenentlassungsanzeige | Arbeitsrecht Berlin

Verfasst von Rechtsanwalt Martin Bechert 18. März 2024 · Aktualisiert: 18. März 2024

Bislang ist eine Kündigung, die im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige ausgesprochen wurde, unwirksam, wenn die Anzeige nicht oder fehlerhaft durchgeführt wurde. In dem Verfahren 6 AZR 157/22 (B) – mit Beschluss vom 14.12.2023 – beabsichtigt der 6.Senat des Bundesarbeitsgerichtes nun, diese Rechtsprechung zu ändern. Der Ausgang des Verfahrens ist offen.  

Link zu dem Urteil: Beschluss des 6. Senats vom 14.12.2023 – 6 AZR 157/22 (B)

Wann ist eine Massenentlassung anzuzeigen? 

Nach § 17 Abs. 1 KSchG  besteht eine Anzeige- und Beteiligungspflicht in Abhängigkeit von folgenden Faktoren: 

  • Anzahl der Entlassungen (Schwellenwert) 
  • innerhalb eines Bemessungszeitraums von 30 Tagen 
  • im Verhältnis zur Betriebsgröße. 

Nach § 17 Abs. 1 Nr. 1–3 KSchG erfolgt bei der Ermittlung des Schwellenwerts eine Staffelung der Anzahl der Entlassungen in Relation zur Betriebsgröße; wobei der Ausgangswert die Anzahl der regelmäßig Beschäftigten ist.

Im Einzelnen müssen 

  • in Betrieben mit 21 bis 59 in der Regel Beschäftigten mindestens 6 Arbeitnehmer,
  • in Betrieben mit 60 bis 499 in der Regel Beschäftigten 10 % oder mindestens 26 Arbeitnehmer und 
  • in Betrieben mit 500 oder mehr in der Regel Beschäftigten mindestens 30 Arbeitnehmer

in einem Zeitraum von 30 Kalendertagen entlassen werden. Der Grund der Entlassungen ist dabei unerheblich. Die Probezeit spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.

Was ist eine Entlassung im Sinne des Gesetzes? 

Der Begriff „Entlassung“ der Richtlinie ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts. Deshalb kann nur der EuGH verbindlich festlegen, wie dieser Begriff auszulegen ist. Der EuGH versteht darunter die tatsächliche Beendigung des Arbeitsvertrages, sofern sie nicht allein dem Wunsch des Arbeitnehmers entsprechend erfolgt ist  (vgl. EuGH, Beschluss vom 12.10.2004 – Rs. C-55/02 (Europäische Kommission/Portugal), NZA 2004, 1265).

Das schließt folgende Beendigungstatbestände ein: 

  • ordentliche Kündigung,
  • Änderungskündigung,
  • hilfsweise ordentliche Kündigung (umstritten),
  • außerordentliche Kündigung (umstritten),

nicht aber 

  • Befristung, wenn sie nicht zur Umgehung der Bestimmungen über die Massenentlassung getroffen wurde, 
  • Aufhebungsvertrag, soweit sie nicht auf Veranlassung des Arbeitgebers erfolgen.

Unter Entlassung ist dabei nicht die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen, sondern die Maßnahme, die die rechtliche Beendigung ausgelöst hat. Bei einer durch den Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung ist also die Kündigungserklärung maßgeblich. Auf die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses kommt es nicht an (vgl. EuGH, Beschluss vom 27.01.2005 – C-188/03 (Junk), NZA 2005, 213).

Sind bei der Ermittlung des Schwellenwerts für die Massenentlassungsanzeige außerordentliche Kündigungen mitzuzählen? 

Nach zutreffender, aber bestrittener Ansicht, sind auch fristlose Kündigungen mitzuzählen. 

Die Ausnahmereglung nach § 17 Abs. 4 KSchG verstößt insoweit  gegen die Massenrichtlinie. In § 17 Abs. 4 KSchG heißt es:

„Das Recht zur fristlosen Entlassung bleibt unberührt. Fristlose Entlassungen werden bei Berechnung der Mindestzahl der Entlassungen nach Absatz 1 nicht mitgerechnet.“

Demgegenüber bestimmt die Massenentlassungsrichtlinie in Teil I Art. 1 (1) a Folgendes:

„Massenentlassungen“ sind Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt und …“

Die in den Vorschriften verwendeten Begrifflichkeiten sind nicht deckungsgleich. Es werden nämlich von der Ausnahmeregelung in § 17 Abs. 4 KSchG insbesondere auch solche fristlosen Kündigungen erfasst,  die aus anderen als „in der Person“ des betroffenen Arbeitnehmers liegenden Gründen erfolgen. Die Regelung verstößt insoweit gegen die Massenentlassungsrichtlinie. 

Die Frage nach der Rechtsfolge dieses Verstoßes wurde noch nicht höchstrichterlich entscheiden. Dafür, dass die fristlosen Kündigungen mitzuzählen sind, spricht allerdings, dass das Bundesarbeitsgericht auch im Fall von Änderungskündigungen diese mitzählt. 

Änderungskündigungen sind „Entlassungen” im Sinne von § 17 KSchG. Das gilt unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer das ihm mit der Kündigung unterbreitete Änderungsangebot ablehnt oder – und sei es unter Vorbehalt – annimmt. (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20.02.2014 – 2 AZR 346/12, NZA 2014, 1069). 

Die Rechtsmeinung, nach der außerordentliche Kündigungen nur im Falle der betriebsbedingten Kündigung mitzuzählen sind (vgl. MüKoBGB/Hergenröder, § 17 Rn. 29; KR/Weigand, § 17 Rn. 58)  übersieht insoweit, dass der deutsche Gesetzgeber über die Vorgaben der Massenentlassung hinausgeht, und nach dem klaren Wortlaut alle ordentlichen Kündigungen in § 17 Abs. 1 KSchG erfasst wissen will. In § 17 Abs. 1 KSchG wird gerade nicht nach Kündigungsgründen differenziert. Nach dem KSchG werden also gerade auch die ordentlichen Kündigungen erfasst, die ein Arbeitgeber aus Gründen vornimmt, die in der Person des Arbeitnehmers im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie liegen. Es wäre ein Wertungswiderspruch, wenn nunmehr bei außerordentlichen Kündigungen nach den Gründen der Entlassung differenziert werden würde, obgleich der deutsche Gesetzgeber eine Differenzierung nach dem Grund der Entlassung gerade nicht vornimmt. Eine Differenzierung nach Kündigungsgründen ist der gesamten Reglung in § 17 KSchG fremd. 

Soweit man der anscheinend herrschenden Meinung folgt, ist § 17 KSchG richtlinienkonform auszulegen. Danach werden nur solche fristlosen Entlassungen nicht mitgezählt, die ihren Grund „in der Person des Arbeitnehmers“ im Sinne der Richtlinie haben. Diese Ansicht hat jedoch zur Folge, dass sich das Gericht im Hinblick auf das Bestehen der Anzeige- und Beteiligungspflicht ggf. mit den einzelnen Gründen, aus denen die außerordentlichen Kündigungen ausgesprochen worden ist, auseinanderzusetzen hätte. 

Wird bei der Ermittlung des Schwellenwerts für die Massenentlassungsanzeige eine außerordentliche Kündigung mitgezählt? 

Die mit einer außerordentlichen Kündigung zeitgleich ausgesprochene hilfsweise ausgesprochene Kündigung ist mitzuzählen (vgl. KSchG, Gallner ua. zu § 17 Rn 34). 

Es gibt allerdings auch Stimmen in der Literatur, die die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung nicht sogleich mitzählen wollen, sondern diese nur im Falle der Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigungen mitgezählt wissen wollen. Diese Ansicht hat jedoch zur Folge, dass sich das Gericht im Hinblick auf das Bestehen der Anzeige- und Beteiligungspflicht ggf. mit der Wirksamkeit jeder einzelnen im 30-Tage-Zeitraum ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung auseinanderzusetzen hätte. 

Wie wird der Schwellenwert bei der Massenentlassung im 30-Tage-Zeitraum berechnet? 

Der relevante Bemessungszeitraum wird nach 30 Kalendertagen berechnet. Ausgangspunkt der Fristberechnung ist der Zugang der Kündigungserklärung. Das Bundesarbeitsgericht  lehnt zu Unrecht die Anwendung von §§ 187 ff. BGB ab. Es werden alle innerhalb von 30 Tagen folgenden „Entlassungen“ zusammengezählt.

Sämtliche Entlassungen innerhalb des Bemessungszeitraums sind zu addieren. Weil mit Zugang jeder einzelnen Kündigungserklärung jeweils eine eigene Frist ausgelöst wird, können zeitgleich mehrere Fristen laufen. Die Konsequenz ist, dass zum Zeitpunkt ihres rechtsgeschäftlichen Wirksamwerdens (noch) nichtanzeigepflichtige „Entlassungen“ nachträglich anzeige- und konsultationspflichtig werden können, weil innerhalb des Bemessungszeitraums weitere Kündigungen ausgesprochen worden sind. 

Anderes gilt möglicherweise, wenn der insoweit korrespondierende Antrag bei der zuständigen Behörde auf Zustimmung zur Entlassung eines besonders geschützten Arbeitnehmers innerhalb des Bemessungszeitraums gestellt worden ist. Der Zugang der „Entlassung“ kann dann auf den Zeitpunkt des Zugangs des Antrags bei der zuständigen Behörde vorverlagert werden.

Sodann sind alle Entlassungen zusammengerechnet, die innerhalb eines Zeitraumes von 30 Tagen ausgesprochen worden sind. 

Für jede Entlassung ist dabei derjenige 30-Tage-Zeitraum maßgeblich, in dem die meisten weiteren Kündigungserklärungen zugegangen sind; wobei sowohl die vor als auch nach der Kündigung ausgesprochenen weiteren Entlassungen relevant sein können. 

Ist eine Kündigung bei Nichtbeachtung der Pflicht zur Konsultation vom Betriebsrat unwirksam?

Nach § 17 KSchG ist im Rahmen der Massenentlassung vor dem Ausspruch der Kündigung ein Konsultationsverfahren sowie ein Anzeigeverfahren durchzuführen. 

Ist vor Ausspruch einer Kündigung das erforderliche Konsultationsverfahren nicht durchgeführt worden, so ist die Kündigung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts unwirksam (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.03.2013 – 2 AZR 60/12, NZA 2013, 966). 

In § 17 Abs. 2 sind die Rechtsfolgen einer unzureichenden Durchführung des Konsultationsverfahrens nicht geregelt. Die Rechtsfolge der Unwirksamkeit der Kündigung ergibt sich aber aus einer europarechtskonformen Auslegung des § 17 KSchG. Der Sinn des Massenentlassungsverfahren besteht darin, durch die Beratung mit dem Betriebsrat Möglichkeiten zu suchen, die Entlassungen zu vermeiden. Wird das Beteiligungsverfahren vom Arbeitgeber nicht ordnungsgemäß durchgeführt, so kann die gemeinsame Suche der Betriebsparteien nach einer anderen Möglichkeit als die massenhafte Entlassung zugunsten jedes einzelnen gekündigten Arbeitnehmers nicht erfolgen. Als Sanktion kommt in dieser Situation nur die Unwirksamkeit der Kündigung in Frage. 

Die aufkommende Kritik an der Rechtsfolge der Unwirksamkeit der Kündigung bei nicht ordnungsgemäßer Durchführung des Anzeigeverfahrens, allen voran des 6. Senats des Bundesarbeitsgerichts, führt zu keinem anderen Ergebnis. 

Der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigt, seine Rechtsprechung, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot iSv. § 134 BGB unwirksam ist, wenn zum Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufzugeben. Der 6.  Senat hat deshalb in dem Verfahren – 6 AZR 157/22 (B) – mit Beschluss vom 14.12.2023 nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG angefragt, ob der 2. Senat an seiner Rechtsauffassung festhält. Der Ausgang dieses Verfahrens ist offen.

Die kritischen Betrachtungen des 6. Senats beziehen sich aber ausdrücklich nur auf das Anzeigeverfahren, und gerade nicht auf das Konsultationsverfahren. 

In dem Beschluss des 6. Senats vom 14.12.2023 – 6 AZR 157/22 (B) heißt es dazu unter Rn. 51f : 

„Vorsorglich weist der Sechste Senat darauf hin, dass er ungeachtet vorstehend dargestellter Bedenken gegen das aktuelle Sanktionssystem für Fehler des Arbeitgebers im Anzeigeverfahren keinen Anlass sieht, die von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gefundene Sanktion für Fehler im Konsultationsverfahren in Frage zu stellen.“

1. Fehler im Konsultationsverfahren haben nach übereinstimmender Rechtsprechung von Sechstem (vgl. zuletzt BAG 13. Juni 2019 – 6 AZR 459/18 – Rn. 39, BAGE 167, 102) und Zweitem Senat (seit BAG 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 19 ff., BAGE 144, 366) des Bundesarbeitsgerichts die Nichtigkeit der Kündigung gemäß § 134 BGB zur Folge. …“

Ist eine Kündigung bei Nichtbeachtung der Pflicht zur Anzeigenerstattung gegenüber der Agentur für Arbeit unwirksam?

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat auch das Fehlen einer wirksamen Massenentlassungsanzeige die Unwirksamkeit der Kündigung gem. § 134 BGB zur Folge (Bundesarbeitsgericht,  Urteil vom 21.03.2013 – 2 AZR 60/12, NZA 2013, 966). 

Die aufkommende Kritik an der Rechtsfolge der Unwirksamkeit der Kündigung bei nicht ordnungsgemäßer Durchführung des Anzeigeverfahrens, allen voran des 6. Senats des Bundesarbeitsgerichts, führt zu keinem anderen Ergebnis. 

Der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts beabsichtigt, seine Rechtsprechung, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot iSv. § 134 BGB unwirksam ist, wenn zum Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufzugeben. Der 6.  Senat hat deshalb in dem Verfahren – 6 AZR 157/22 (B) – mit Beschluss vom 14.12.2023 nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG angefragt, ob der 2. Senat an seiner Rechtsauffassung festhält. Der Ausgang dieses Verfahrens ist offen.