EuGH-Fall C-134/24 Tomann: Massenentlassungsanzeige könnte deutsches Arbeitsrecht verändern

Der EuGH prüft in der Rechtssache C-134/24 (Tomann), ob fehlerhafte oder fehlende Massenentlassungsanzeigen Kündigungen unwirksam machen. Der Generalanwalt fordert eine strenge Auslegung – mit weitreichenden Folgen für Arbeitgeber, Arbeitnehmer und das deutsche Kündigungsschutzrecht.

Verfasst von Rechtsanwalt Martin Bechert 15. Oktober 2025 · Aktualisiert: 15. Oktober 2025

Zur Rechtssache C-134/24 („Tomann“) und den möglichen Folgen für die deutsche Praxis

Die bevorstehende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-134/24 (Tomann) könnte das deutsche Massenentlassungsrecht grundlegend verändern. Der Fall betrifft die Frage, welche Folgen es hat, wenn ein Arbeitgeber Kündigungen ausspricht, ohne zuvor eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Behörde einzureichen.

Nach der EU-Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG ist der Arbeitgeber verpflichtet, geplante größere Entlassungen zunächst mit dem Betriebsrat zu beraten und anschließend der Arbeitsverwaltung anzuzeigen. Erst nach Ablauf einer dreißigtägigen Sperrfrist dürfen die Kündigungen wirksam werden. Ziel der Regelung ist es, der Arbeitsverwaltung Zeit zu geben, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zu treffen und soziale Härten abzufedern.

Der Hintergrund des Falls Tomann

Das Bundesarbeitsgericht hat dem Europäischen Gerichtshof mit Beschluss vom 22.02.2024 mehrere Fragen zur Auslegung dieser Richtlinie vorgelegt. Es möchte wissen, ob Kündigungen, die ohne ordnungsgemäße Anzeige ausgesprochen wurden, endgültig unwirksam sind und ob eine nachträgliche Anzeige den Mangel heilen kann. Außerdem soll geklärt werden, ob eine fehlerhafte oder unvollständige Anzeige dieselben Folgen hat wie eine vollständig fehlende Anzeige. Diese Fragen sind von großer praktischer Bedeutung, weil die Anzeigevorschriften in § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) komplex sind und in der Praxis häufig Fehler auftreten.

Bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wurde zwischen fehlender und fehlerhafter Anzeige unterschieden. Nur wenn gar keine Anzeige erstattet wurde, galt die Kündigung als unwirksam. Eine inhaltlich unrichtige oder unvollständige Anzeige wurde dagegen häufig als unschädlich angesehen, sofern der Zweck der Vorschrift – die Information der Arbeitsverwaltung – dennoch erreicht wurde. Das Bundesarbeitsgericht sah die Anzeigepflicht bislang als Ordnungsvorschrift und nicht als Wirksamkeitsvoraussetzung an. Damit war es möglich, dass Fehler geheilt oder nachträglich korrigiert werden konnten. Diese praxisnahe Auslegung galt als arbeitgeberfreundlich und sollte verhindern, dass formale Fehler ganze Restrukturierungsprozesse zu Fall bringen.

Der Standpunkt des Generalanwalts beim EuGH

Der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof, Mindaugas Norkus, hat in seinen Schlussanträgen vom 27.02.2025 eine deutlich strengere Linie vorgeschlagen. Nach seiner Auffassung ist die Massenentlassungsanzeige keine bloße Formalität, sondern eine zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung für alle betroffenen Kündigungen. Eine Anzeige, die inhaltlich fehlerhaft oder unvollständig ist, steht einer fehlenden Anzeige gleich. Erst wenn die Anzeige ordnungsgemäß und vollständig bei der zuständigen Behörde eingegangen ist, beginnt die dreißigtägige Sperrfrist zu laufen. Eine nachträgliche Korrektur heilt den Mangel nicht. Kündigungen, die ohne eine solche Anzeige ausgesprochen wurden, werden niemals wirksam.

Mögliche Folgen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer

Diese Auslegung würde den bisherigen deutschen Umgang mit Massenentlassungsanzeigen deutlich verschärfen. Bislang konnten Unternehmen kleinere formale Fehler oft „heilen“ oder nachträglich korrigieren. Künftig wäre das nicht mehr möglich. Eine fehlerhafte Anzeige würde dazu führen, dass alle darauf beruhenden Kündigungen unwirksam sind. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eröffnet das neue Chancen, sich erfolgreich gegen Kündigungen im Rahmen von Betriebsänderungen oder Restrukturierungen zu wehren.

ür viele Betroffene wäre dies ein wichtiger Schutzmechanismus. In der Praxis kommt es häufig vor, dass Arbeitgeber das Anzeigeverfahren unter großem Zeitdruck durchführen und dabei Fehler machen – etwa weil sie falsche Zahlen angeben, unvollständige Informationen über die Beratungen mit dem Betriebsrat einreichen oder die Anzeige bei der falschen Agentur für Arbeit einreichen. Nach der möglichen neuen EuGH-Linie könnten solche Fehler nicht mehr als „bloße Formalitäten“ abgetan werden, sondern hätten unmittelbare rechtliche Folgen: Die Kündigungen wären unwirksam.

Bedeutung für laufende und künftige Kündigungsschutzverfahren

Auch für laufende Kündigungsschutzverfahren könnte das Urteil weitreichende Folgen haben. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Klagen bislang abgewiesen wurden, weil die Gerichte eine Anzeige für „im Wesentlichen ordnungsgemäß“ hielten, könnten künftig bessere Erfolgsaussichten haben. Die Arbeitsgerichte wären dann verpflichtet, die Anzeigevorgänge sehr genau zu prüfen – insbesondere, ob wirklich alle gesetzlichen Anforderungen erfüllt wurden. Schon kleine formale Fehler, die bislang kaum Beachtung fanden, könnten in Zukunft den Ausschlag geben.

Das gilt auch für neue Kündigungsschutzklagen: Wer im Rahmen einer Massenentlassung gekündigt wird, sollte unbedingt prüfen lassen, ob die Anzeige ordnungsgemäß erfolgt ist. Dazu gehört zum Beispiel, ob der Betriebsrat rechtzeitig beteiligt wurde, ob die Anzeige alle erforderlichen Angaben enthält und ob sie bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingegangen ist. Wenn das nicht der Fall ist, sind die Kündigungen unwirksam – unabhängig von anderen Gründen.

Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht

Für das deutsche Arbeitsrecht wäre eine solche Entscheidung ein Wendepunkt. Die Massenentlassungsanzeige würde nicht mehr nur als formale Informationspflicht verstanden, sondern als echte Wirksamkeitsvoraussetzung für jede Kündigung. Der bisherige Spielraum, Fehler nachträglich zu korrigieren, würde entfallen. Damit würde das Kündigungsschutzrecht in Deutschland insgesamt arbeitnehmerfreundlicher und stärker am europäischen Schutzniveau ausgerichtet.

Zugleich müsste der deutsche Gesetzgeber reagieren und § 17 KSchG an die europarechtlichen Vorgaben anpassen. Eine klare gesetzliche Regelung, dass eine ordnungsgemäße Anzeige zwingende Voraussetzung für jede Massenentlassung ist, könnte Rechtssicherheit schaffen und verhindern, dass Arbeitgeber die Vorschrift zu ihren Gunsten auslegen.

Fazit

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wird am 30.10.2025 erwartet. Sollte der Gerichtshof der Argumentation des Generalanwalts folgen, wird das die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern deutlich stärken. Fehlerhafte oder unvollständige Anzeigen durch Arbeitgeber hätten dann gravierende Folgen: Die Kündigungen wären unwirksam, das Arbeitsverhältnis bestünde fort, und Lohnansprüche blieben bestehen.

Für Beschäftigte, die von Massenentlassungen betroffen sind oder bereits eine Kündigung erhalten haben, ist es deshalb besonders wichtig, den Vorgang prüfen zu lassen. Oft lassen sich Fehler in der Massenentlassungsanzeige nachweisen – und diese können entscheidend dafür sein, dass eine Kündigung vor Gericht keinen Bestand hat.