EUGH, HR-Rail, Urteil vom 10.02.2022, C-485/20
Der Fall:
Im November 2016 stellte die belgische HR Rail (Arbeitgeber) einen Facharbeiter für die Wartung und Instandhaltung der Schienenwege ein. Der Bediensteten bekam einen in der Probezeit Herzschrittmacher eingesetzt, so dass in der Folge eine Behinderung anerkannt worden ist. Es wurde zudem festgestellt, dass der Bedienstete ungeeignet ist, die Funktionen, für die er eingestellt worden war, zu erfüllen. Er wurde daraufhin innerhalb desselben Unternehmens als Lagerist eingesetzt.
Durch die Behinderung wurde die Ausführung des Jobs unmöglich
Am 26.09.2018 der Arbeitgeber den Bediensteten über seine Entlassung zum 30.09.2018, und zwar mit einem für die Dauer von fünf Jahren geltenden Verbot einer Wiedereinstellung in der Besoldungsgruppe, in der er eingestellt worden war. Einen Monat später teilte der Arbeitgeber mit, dass seine Probezeit beendet worden sei, da es ihm endgültig völlig unmöglich sei, die Aufgaben, für die er eingestellt worden sei, zu erfüllen.
Der Bedienstete zog gegen seine Entlassung vor Gericht, das die Sache dem EuGH vorlegte. Das belgische Gericht bat den EuGH um Erläuterungen zur Auslegung der Richtlinie 2000/78 für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, insbesondere zum Begriff „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“.
Die Entscheidung:
In seinem heutigen Urteil stellt der EuGH fest, dass dieser Begriff impliziert, dass ein Arbeitnehmer – und zwar auch derjenige, der nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviert –, der aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt wurde, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, auf einer anderen Stelle einzusetzen ist, für die er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern der Arbeitgeber durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird.
Richtlinie 2000/78 gilt auch in der Probezeit
Einleitend weist der EUGH darauf hin, dass die Richtlinie 2000/78 einen allgemeinen Rahmen schaffen soll, der gewährleistet, dass jeder „in Beschäftigung und Beruf“ gleichbehandelt wird, indem sie dem Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen bietet, wozu auch die Behinderung zählt.
Der EuGH stellt klar, dass die Richtlinie in Bezug auf die Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit und den Zugang zu allen Formen und allen Ebenen der Berufsberatung, der Berufsausbildung, der beruflichen Weiterbildung und der Umschulung gilt. Die Bestimmung ist weit genug gefasst, um auf den Fall eines Arbeitnehmers anwendbar zu sein, der nach der Einstellung durch seinen Arbeitgeber zu Ausbildungszwecken eine Probezeit absolviert. Folglich führt der Umstand, dass der Arbeitgeber zum Zeitpunkt seiner Entlassung kein endgültig eingestellter Bediensteter war, nicht dazu, dass seine berufliche Situation vom Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 ausgenommen ist.
EUGH: Angemessene Vorkehrungen sind zu treffen
Der EuGH erinnert sodann daran, dass gemäß dieser Richtlinie „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen sind, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Der Arbeitgeber hat also die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden ihn unverhältnismäßig belasten.
Zu den geeigneten Maßnahmen zählen gemäß der Richtlinie „wirksame und praktikable Maßnahmen, um den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten, z. B. durch eine entsprechende Gestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung des Arbeitsgeräts, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen“. Der EuGH führt aus, dass es sich dabei um eine nicht abschließende Aufzählung geeigneter Maßnahmen handelt, die die Arbeitsumgebung, die Arbeitsorganisation und/oder die Aus- und Fortbildung betreffen können. Die Richtlinie enthält eine weite Definition des Begriffs „angemessene Vorkehrungen“.
Nach Auffassung des EuGH kann es im Rahmen „angemessener Vorkehrungen“ eine geeignete Maßnahme darstellen, einen Arbeitnehmer, der wegen des Entstehens einer Behinderung für seinen Arbeitsplatz endgültig ungeeignet geworden ist, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden. Eine solche Auslegung ist mit diesem Begriff vereinbar, der dahin zu verstehen ist, dass er die Beseitigung der verschiedenen Barrieren umfasst, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, behindern.
Grenze: Unverhältnismäßige Belastung des Arbeitgebers
Allerdings weist der EuGH darauf hin, dass die Richtlinie 2000/78 den Arbeitgeber nicht dazu verpflichten kann, Maßnahmen zu ergreifen, die ihn „unverhältnismäßig belasten“. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Maßnahmen zu übermäßigen Belastungen führen, sollten insbesondere der mit ihnen verbundene finanzielle Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigt werden.
Im Übrigen stellt der Gerichtshof fest, dass die Möglichkeit, eine Person mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, jedenfalls voraussetzt, dass es zumindest eine freie Stelle gibt, die der betreffende Arbeitnehmer einnehmen kann.
Das Fazit:
Einmal mehr macht eine Entscheidung des EuGH die Bedeutung des Behindertenrechts auch für das Arbeitsrecht deutlich. Es ist zu erwarten, dass mit diesem Urteil die besonderen Rechte von Menschen mit Behinderung stärke Betonung in Kündigungsschutzverfahren finden werden; zumal deren Einhaltung in der Probezeit aufgrund von § 170 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX vom Integrationsamt regelmäßig nicht kontrolliert wird.